Die Menschen am ZWM: Folge 4 Julia Zessin

Julia Zessin ist seit September 2021 als Referentin für Weiterbildung am ZWM. Davor koordinierte sie an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Mannheim einen binationalen englischsprachigen Studiengang und konzipierte und realisierte im Anschluss daran – ebenfalls an der DHBW – die standortübergreifende internationale Summer School zum Thema Nachhaltigkeit.

Julia, Du hast Dich in einem anderen Leben vor dem ZWM unter anderem stark mit dem Thema Internationalisierung befasst, vor allem im englischsprachigen Raum. Waren und sind das U.K. oder die USA Sehnsuchtsorte für Dich?

Aktuell eher ein wenig Schreckensorte. Wenn ich mir anschaue, was in beiden Ländern passiert, macht mir das schon Sorgen: also Brexit und die Folgen im U.K., Radikalisierung und „Clownisierung“ in der Politik in den USA, Beschneidung von Menschenrechten, Grundrechten. Dennoch, im Vereinigten Königreich, in Schottland, liegt mein Sehnsuchtsort, seit meinem Auslandssemester in Stirling. Ein Städtchen, das man nicht unbedingt kennen muss, „Tor zu den Highlands“ wird es auch genannt, es liegt auf halbem Weg zwischen Edinburgh und Glasgow. Dort war ich ein halbes Jahr lang, das schlechtere halbe Jahr, nämlich im Wintersemester, da ist es sehr lange dunkel und man muss selbst für innere Helligkeit sorgen. Aber mit Glasgow auf der einen Seite, Edinburgh auf der anderen, Kunst und Kultur, herzlichen Menschen und wunderschönen Landschaften lässt es sich schon aushalten. Da möchte ich auf jeden Fall wieder hin, das steht schon fest auf dem Plan.

Dann bist Du bei der Erweiterung des ZWM-Programms um ein englischsprachiges Portfolio sicher auch mit Herzblut dabei?

Auf jeden Fall, ich halte das für sehr wichtig und für genau den richtigen Schritt für das ZWM, denn die akademische Welt, die Welt der Wissenschaften, ist nun mal international. Und Englisch ist dabei eine Lingua Franca, die wir aktuell nutzen. Ich finde es toll, dass wir 2023 einen Aufschlag mit dem ersten Professional Leadership in Science-Programm in englischer Sprache wagen. Und ich freue mich sehr darauf, künftig dieses Programm zu betreuen. Denn hier kommt meine zweite große Leidenschaft ins Spiel: Zusammenarbeit und Führung, also Selbstführung, Teamführung, Organisationsführung. Das sind Themen, mit denen ich mich schon in eigenen Weiterbildungen befasst habe. Insofern ist das Professional Leadership in Science-Programm für mich die perfekte Kombination: ein bisschen Internationalisierung und viel Leadership. Auch weil ich am ZWM bisher diesen internationalen Aspekt ein wenig vermisst habe. Schließlich war ich vor meiner Zeit am ZWM immer in internationalen Kontexten unterwegs: ich habe eine internationale Summer School für die Duale Hochschule konzipiert und koordiniert – da war das Schlagwort „Internationalisation at Home“. Davor habe ich lange in einem binationalen englischsprachigen Studiengang gearbeitet, auch an der DHBW, und noch davor habe ich Deutsch als Fremdsprache unterrichtet. Alle Jobs verbindet sicherlich, dass ich immer mit Menschen zu tun hatte, die nach Deutschland kamen und sich hier irgendwie zurechtfinden mussten, Culture Clash erlebten – mal mehr, mal weniger. Ich fand es immer wunderbar, Menschen hier willkommen zu heißen, sie zu unterstützen und ein bisschen Wegweiser spielen zu dürfen.

Daneben hast Du Dich als Übersetzerin und Dozentin mit (inter)kulturellen Themen, Kommunikation sowie Sprachvermittlung intensiv auseinandergesetzt. Gibt es da einen Bogen zum Diversity-Modulprogramm, das Du für das ZWM betreust?

Auf jeden Fall hat mich die Zusammenarbeit mit Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen nach Deutschland gekommen sind, teilweise mit dem Wunsch, in einem anderen Land zu studieren, teils aufgrund der Notwendigkeit, das eigene Land zu verlassen, für verschiedene Themen sensibilisiert: Wie Menschen in Deutschland aufgenommen werden, die kein Deutsch sprechen, wie Menschen in Deutschland ankommen, die anders aussehen. Wobei die Frage nach der ethnischen Herkunft nur eine von vielen Facetten von Diversity ist. Soziale Herkunft ist eine weitere, genau wie Alter, Geschlecht, sexuelle Identität, körperliche und geistige Fähigkeiten und Gesundheit. So viel mehr spielt da eine Rolle. Und nicht nur für uns Menschen selbst, unsere Identität, sondern für unsere Lebenswege, unsere beruflichen Wege, unsere Chancen in Ausbildung, Studium und Beruf. Es geht um Gerechtigkeit. Und in unserem Metier geht es eben um Bildungsgerechtigkeit. Man muss sich nur mal Studienabbruchsquoten anschauen. Menschen, die einen Migrationsvorder- oder -hintergrund haben, oder Menschen, die als erste in ihrer Familie studieren, brechen überdurchschnittlich oft das Studium ab. Aber warum?! Doch nicht, weil sie nicht genauso intelligent und interessiert sind wie ihre KommilitonInnen aus AkademikerInnenhaushalten! Das kann doch nicht sein! Wo sind die unterstützenden Strukturen und Systeme? Wo sind die AnsprechpartnerInnen und Hilfestellungen? Auch schon im Vorfeld natürlich! Das macht mich oft ziemlich wütend.

Und deswegen interessiert mich sehr, was wir als ZWM, als Institutionen, als ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen tun können, um für mehr Chancengerechtigkeit zu sorgen. Genau: Chancengerechtigkeit statt Chancengleichheit, Equity statt Equality.

Für mich als Referentin am ZWM bedeutet das auch: Wo und wie können
wir unsere TeilnehmerInnen und deren Institutionen darin unterstützen,
dass Menschen in ihrem Arbeitsumfeld sicher, zufrieden und konstruktiv
miteinander arbeiten? Klar sind das Führungsthemen und
Kommunikationsthemen, aber das sind auch Diversity-Themen.

Und sicher hat auch unser Modulprogramm Diversity Limitationen. Wir
können aus unseren eigenen Erfahrungen und Blickwinkeln ja nicht
ausbrechen. Aber wir lernen ständig dazu – zum Glück! Und vor allem
haben wir zwei tolle Dozentinnen, Dr. Daniela Marx und Nele Kuhn, die an
ihren Hochschulen Gleichstellungs- und Diversity-Bereiche leiten und
die ihre ganze Expertise in das Modulprogramm miteinbringen. Natürlich
haben auch die beiden, was ihre persönlichen Erfahrungen mit Vielfalt
angeht, einen gewissermaßen begrenzten, wenn auch sehr umfangreichen
Erfahrungsschatz: Beide Dozentinnen sind Akademikerinnen, die an
Hochschulen arbeiten, die auch international gearbeitet haben – dennoch
können sie die Perspektive einer Person of Colour, einer Person mit
Behinderung, einer aus anderem Grund marginalisierten Person nur
imaginieren. Beziehungsweise sich selbst auch weiterbilden. Und das ist
doch der Punkt: Dass wir miteinander, voneinander und füreinander
lernen. Das Schöne ist ja, dass sich das ZWM kontinuierlich
weiterentwickelt und immer wieder die eigenen Grenzen erweitert. So
werden wir im Jahr 2023 beispielsweise einen Workshop mit Dr. Claire Jin
Deschner zum Thema Empowerment für Führungspersonal und
HochschulmitarbeiterInnen of Colour neu ins Programm nehmen. Da wird es
um anti-rassistische, ressourcenstärkende Personalentwicklung gehen, in
einem Raum, der nicht von weißen Sichtweisen geprägt ist. Das finde ich
großartig, dass wir so etwas wagen.

Und was hast Du Dir für die nähere und mittlere Zukunft
vorgenommen? Wir haben gehört, Du bist dabei, Dein vielseitiges Profil
um eine zusätzliche Facette zu ergänzen und qualifizierst Dich aktuell
auch als Systemischer Coach?

Das ist auf jeden Fall ein Thema, das mich schon länger begleitet.
Die Idee des systemischen Coachings bzw. des systemischen Ansatzes
generell hat mich vom ersten Moment an fasziniert. Systemische Coaches,
anders als sonstige ExpertInnen und BeraterInnen, kommen nicht mit
Ratschlägen und Lösungen um die Ecke, sondern mit einem aufmerksamen,
neugierigen, wertschätzenden Nichtwissen. Nichtwissen! Toll, oder?! Ich
habe keine Ahnung von Dir, ich gehe unvoreingenommen und wertschätzend
auf Dich zu und unterstütze Dich dabei, Deine eigenen Lösungen zu
finden. Denn ich vertraue darauf, dass Du nicht nur das Problem, sondern
auch die Lösung in Dir hast.

Das scheint zunächst diametral entgegengesetzt zu dem, was wir hier
am ZWM tun. Aber gerade unsere Veranstaltungen zu Change-, Management-
und Führungs-Themen werden oft von ausgebildeten systemischen Coaches
geleitet. Und von deren Haltung, mit Fokus auf Wertschätzung,
Kontextorientierung und Ressourcenorientierung, profitieren alle
TeilnehmerInnen. Denn wenn wir uns in nicht-fachspezifische
Angelegenheiten vertiefen, dann beginnt die Arbeit unserer TrainerInnen
doch oft mit „Dein System, mein System“: Wie kommen wir zusammen?

Ich gucke mir auch ein bisschen was von meiner lieben Kollegin Anna Royon-Weigelt
ab, die schon lange Coach und Trainerin ist und diesen Tätigkeiten
neben ihrer Arbeit am ZWM nachgeht. Ich halte das für eine sehr
zeitgemäße Art und Weise, an Arbeitswelten wie Arbeitsverhältnisse
heranzugehen, aus unterschiedlicher Beschäftigung auch Inspiration für
anderen Themen und Aktivitäten zu ziehen, mit denen ich mich befasse. So
möchte ich das künftig auch gerne tun.

Vielen Dank!

Das Gespräch führte Theo Hafner.

Julia Zessin
Referentin Weiterbildung
  • 0157 / 76 29 23 67
  • zessin@zwm-speyer.de

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